Die Welt als Palimpsestvon Mark Gisbourne

"Die Fantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer; vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder."

Francisco Goya (1756-1828)

Was ist ein Palimpsest? Eine einfache Antwort könnte lauten: Es meint ein Menschenleben, dessen Textur von Tag zu Tag ergänzt wird oder Verdichtung erfährt. Einige Dinge werden hinzugefügt, andere scheinbar getilgt. Im erweiterten Sinn ist ein Palimpsest das Pergament menschlichen Strebens, die historische Ansammlung schöpferischer und geistiger Erfahrungen, die ebenso laufend getilgt werden. Ein Palimpsest wird ständig neu beschrieben, trägt aber weiter die dadurch verborgenen Spuren des Vergangenen. Es mag noch so sorgfältig leer geschabt (seiner Inhalte entledigt) scheinen – im Verborgenen enthält es doch umfassendere Wirklichkeiten. Diese entstehen aus der gegenseitigen Durchdringung von Schichten materieller Orte und Dinge, die, einst real, nun in Form von Gedanken und Vorstellungen noch virtuell vorhanden sind. Wenn heute die Synchronie (Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen) weitgehend die Diachronie (den linearen Verlauf der Geschichte) ersetzt hat, dann kommt zugleich das, was war, zunehmend als palimpsestische Spur dieser damaligen Wirklichkeit wieder ins Spiel.

Margret Eicher macht kein Geheimnis daraus, dass ihr Werk idiomatisch und populär angelegt ist – eine ironische Lesart von (oft archetypischen) Bildern der Vergangenheit, jedoch neu angereichert mit Inhalten unserer heutigen Kultur. Indem die Künstlerin im Jahr 2002 damit begann, sich die Konventionen der höfischen Tapisserie anzueignen, übertrug sie zugleich den Formenschatz der barocken „hohen Kunst“ in die Sprache und die Assoziationen der zeitgenössischen Populärkultur. In rein psychischen Begriffen stellt ihr Werk eine Verschiebung von der sakrosankten hierarchischen Kultur zur horizontalen Populär- und Konsumkultur dar, somit von einer Welt, in der jedem sein Status von Geburt an mitgegeben ist, zu einer anderen, in der man ihn materiell erlangt. Grundsätzlich feiern Eichers Bildteppiche die Populärkultur, wenngleich sie hin und wieder eine ätzende Kulturkritik des hemmungslosen Konsums enthalten. Die Künstlerin verschmilzt verschiedene Bilder der hohen „historischen Malerei“ miteinander und überträgt sie unter Verwendung fotografischen Quellenmaterials in die Gegenwart, wobei diese Fotografien selbst oft historische Gemälde zitieren. Verbindendes Prinzip sind die Techniken der digitalen Bearbeitung am Computer, deren endlose Reproduktion die alten Gemälde ebenso durchlaufen haben wie die Bilder der modernen Populär- und Konsumkultur – erstere auf Grund ihrer angeblichen Bedeutung für die kulturelle Bildung, letztere durch die Kreisläufe eines Kapitalismus sofortigen Konsumierens. Die Künstlerin Eicher wählt also einen synchronen Ansatz: Sie geht, was ihre ikonografischen Quellen betrifft, „zurück zur Zukunft“. Die Vergangenheit wird in die Formen der Gegenwart gegossen, die Gegenwart findet sich neu artikuliert innerhalb der historischen Konventionen der Tapisserie.

„Die Kunstgeschichte ist ein kollektives Gedächtnis, ebenso wie die Medienbilder von heute ein kollektives Gedächtnis sind.“ Ihre Tapisserien sind zwar nicht unmittelbar politisch oder ideologisch in einem propagandistischen Sinn, aber ihr Umgang mit dem Bildmaterial der Massenmedien spürt unausweichlich politische, wirtschaftliche, libidinale oder kulturelle Machtverhältnisse auf. Sex, Geld und Macht gingen schon immer Hand in Hand. Manche ihrer Arbeiten wirken wie gezielte Provokationen. Ein Beispiel dafür istNach der Jagd (2009). Die historische Vorlage zu diesem Bild ist Thomas Gainsboroughs berühmtes Gemälde Mr and Mrs Andrews von 1750, eine ikonische Darstellung des konservativen Landadels im England des 18. Jahrhunderts. Der Hund des Grundherrn, ein Symbol seiner Lehensherrschaft, ist noch vorhanden. Doch ihm gegenüber kniet eine bis auf ein Strumpfband nackte Frau und huldigt dem amerikanischen Rap-Star Snoop Dogg im Zentrum des Bildes, der in einem eleganten Anzug an seinem panzerartigen Auto lehnt. Die provokative Absicht ist deutlich, denn wir sind von einem Zeitalter, in dem Macht mit Land und Besitz (mit materieller Substanz) einherging, in ein anderes eingetreten, das Status an flüchtiger Berühmtheit und an Konsumkapital festmacht. Unser Wertesystem orientiert sich heute weniger an materieller Substanz, die wir besitzen (etwa Grund und Boden), als an dem, was wir vor aller Augen konsumieren, und an den Lifestyle-Posen, die wir einnehmen. Sex als Ware ist in unsere Darstellungen der libidinalen männlich-weiblichen Begierde eingeschrieben, und zwar entweder als Frauenmacht oder weibliche Unterwerfung. In diesen beiden Konstellationen spielt er auch in anderen Tapisserien von Eicher eine wichtige Rolle. In Die fünf Tugenden und Erste Nacht wird besonders der weibliche Sex-Appeal herausgestellt.

Vieles in den Tapisserien von Margret Eicher lebt andererseits gerade von interpretatorischen Widersprüchen, Ambivalenzen und von der Filterung durch ihren Sinn für Ironie. So benutzt sie häufig auch Softporno-Simulationen aus der Werbung für ihre Zwecke, in Erste Nacht etwa von Dolce & Gabbana, einer ihrer ergiebigsten Quellen. Hier sitzt das Alter Ego Lara Croft mit gespreizten Schenkeln rechts im Vordergrund, während in der unteren floralen Bordüre des Zierrahmens ein liegender Akt zu sehen ist, der auf Tizians berühmtem Gemälde Venus von Urbino beruht; die Sexualität der Frau steht in einem engen Zusammenhang mit der Ikonografie der Blumen. Die Hauptfiguren sind aufreizende junge Männer und Frauen in pseudoerotischen Posen, die sich jedem Betrachter sofort erschließen. Wie so viele heutige Werbebilder bilden sie eine entrückte Lifestyle-Realität ab, in der die durch Sex verkauften Güter nicht immer explizit zum Ausdruck oder zur Darstellung kommen.

In unserer horizontal und synchron geprägten, mediatisierten Welt bleibt uns die Vergangenheit in Spuren und Resten gegenwärtig, die unablässig weiter verarbeitet werden. Das kunst- und kulturgeschichtliche Gedächtnis kann man als ein kontinuierlich verborgenes Anwesendes bezeichnen – wobei die Kontinuität von scheinbaren Brüchen nur verdeckt wird.

Ein bekannter Romanautor und Illustrator hat sein schöpferisches Leben in den Worten zusammengefasst: „Die Sprache ist ein archäologisches Medium ... die Sprache, die wir sprechen, ist insgesamt ein Palimpsest menschlicher Geschichte und menschlichen Strebens.“[i]

Mark Gisbourne

August 2011


[i]Russel Conwell Hoban (geb. 1925), Romanautor, Illustrator, magischer Realist. Er hat zahlreiche Bücher für Kinder und Erwachsene geschrieben, die unterschiedliche historische Epochen und sprechenden Figuren vermischen. Man kann ihn als einen typischen Vertreter des heutigen diskursiven Verständnisses von ästhetischem Pluralismus bezeichnen.